Im Interview: Familie Dietrich
In diesem Interview werden wertvolle Erfahrungen und persönliche Einblicke in ein bedeutendes Thema geteilt. Es bietet einen ehrlichen Blick auf die Herausforderungen und besonderen Momente, die mit dieser Thematik einhergehen. Das Gespräch lädt ein, die Stärken und positiven Aspekte zu entdecken, die im Umgang mit dieser Erfahrung entstehen, und fördert ein besseres Verständnis für die Vielschichtigkeit der Situation.
Liebe Familie Dietrich, Jonas ist seit seiner Geburt vom 5p-Syndrom in Kombination mit Epilepsie betroffen. Wann wurde die Diagnose gestellt, und wie verlief die erste Zeit nach der Diagnose?
Drei Wochen nach der Geburt wurde ein Ohrenhängsel festgestellt, das auf einen Gendefekt hindeutete. Die Diagnose war ein langer, schwieriger Weg, und anfangs waren wir ganz alleine. Jonas lebt mit dem seltenen 5p-Syndrom, das seit 2015 von schwerer Epilepsie begleitet wird. Diese Kombination erschwert den Informationsaustausch, weshalb der Kontakt zu anderen betroffenen Eltern für uns besonders wichtig ist, auch wenn er selten möglich ist.
Könnten Sie uns erklären, was Jonas’ Diagnose für ihn persönlich, aber auch für Ihre gesamte Familie im Alltag bedeutet?
Im Alltag ist es oft weniger die Behinderung selbst, die Jonas einschränkt, sondern die Reaktionen und Barrieren in seiner Umwelt. Unser Alltag richtet sich komplett nach Jonas und seiner „Zeitrechnung“. Für uns gibt es eine Zeit vor Jonas, die „Jonas-Kümmerzeit“ und die Zeit danach – aber immer steht er im Mittelpunkt. Es heißt: zuerst Jonas, dann Jonas und wieder Jonas – das ist unser „Jonas-Alltag“.
Neben Jonas’ Krankheit meistern Sie auch die Herausforderung, einen Lebensmittelmarkt zu führen. Wie organisieren Sie Ihren Alltag als Eltern und Geschäftspartner, und was bedeutet das für Ihre Beziehung?
Als pflegende Eltern ist die Paarbeziehung oft ein Fremdwort für uns, dafür sind wir ein eingespieltes Team: Papa übernimmt die „Vorschule-Schicht“, Mama die „Nachschule-Schicht“. In schwierigen Phasen kommen echte Nachtschichten dazu, zum Glück nur selten. Unsere Selbstständigkeit hilft uns bei der Organisation, auch wenn die Doppelbelastung durch zwei parallel geführte Familienunternehmen oft an unsere Grenzen geht.
Jonas besucht die Schule, wodurch die Betreuung vor allem am Vormittag gesichert ist. Nutzen Sie darüber hinaus Unterstützungsangebote für betroffene Familien? Und wie entlasten diese Sie als Familie?
Der Pflegedienst unterstützt uns mit Verhinderungspflege und zusätzlichen Betreuungsleistungen, und auch der ambulante Kinderhospizdienst steht uns zur Seite. Es sind kleine Tropfen auf den heißen, manchmal überkochenden Stein – doch wir sind für jede Hilfe dankbar. Diese kurzen Entlastungsphasen schenken uns wertvolle Auszeiten, sei es für den Haushalt, Hobbys, einen Hauch von Normalität, zum Durchatmen oder um das schlechte Gewissen ein wenig zu beruhigen.
2020 waren Sie das erste Mal im Kinder- und Jugendhospiz in Tambach-Dietharz und besuchen den Thüringer Wald seitdem regelmäßig. Hat es Sie Überwindung gekostet, den Kontakt zu einem Kinderhospiz aufzunehmen? Was können Sie uns und den Lesern über Ihre Aufenthalte berichten?
Unser erster Aufenthalt war für mich zunächst nur eine vorsichtige Probe – doch schnell lernten wir in der Herberge des Lebens, das Leben neu zu leben. Es ist unsere einzige Möglichkeit, den 24/7-Pflegealltag zu durchbrechen und echten Urlaub zu erleben: Zeit miteinander, ohne Pflegefunktion. Diese Auszeiten stärken unsere Bindung und schenken uns eine kleine Normalität. Für uns ist die Herberge eine RUHEINSEL, ein RETTUNGSANKER, eine AUFLADESTATION – fast wie „Klein Kanada“, immer wieder neu, je nach unserer Situation.
Haben Sie Unterstützung im privaten Umfeld? Hat sich in Ihrem familiären Umfeld oder Ihrem Freundeskreis etwas verändert, seit der Diagnose unseres Kindes?
Durch Jonas leben wir ein kunterbuntes WG-Leben – oft eher unfreiwillig und nicht immer in den Lieblingsfarben. Die Pflegesituation fordert meist ein 2:1, sodass jede helfende Hand zählt, oft aus der Familie. Es ist nicht leicht, ständig auf Unterstützung angewiesen zu sein und fremdbestimmt zu leben, aber wir sind allen Helfenden tief dankbar. Ein aufmunterndes Wort, ein starker Kaffee oder eine Umarmung bedeuten viel. Unsere sozialen Kontakte sind mit Jonas intensiver und „echter“, auch wenn sie schwer zu pflegen sind. Über die Jahre sind viele „Puzzlestein-Menschen“ zu einem farbenfrohen Freundeskreis gewachsen.